Wie können Prozesse und Produkte nachhaltiger werden? Reuse, Redesign, Recycle – Wie viele Begriffe mit „R“ gehören zum Leichtbau der Zukunft? Gibt es wirklich keinen „European Green Deal“ ohne Leichtbau? Welche Herausforderungen und Wettbewerbschancen ergeben sich aus dem „Green Deal Industrial Plan“ für Unternehmen? All das und mehr erfahren Sie in diesem Beitrag.
In der Artikelserie „Leichtbau trifft…“ schauen wir uns die Zusammenhänge zwischen Leichtbau und Megatrends, Branchen, Buzzwords und Hypes an. Wir suchen Fakten und zeigen Potentiale auf. Wir werden ordnen ein und hinterfragen.
Wie können Prozesse und Produkte nachhaltiger werden?
Viele Unternehmen suchen nach Möglichkeiten, ihre Produktion und Produkte umweltfreundlicher und nachhaltiger zu gestalten. Dabei sollen Nachhaltigkeitsziele erreicht werden, ohne dabei die Wettbewerbsfähigkeit zu beeinträchtigen. Wie das funktionieren kann, ist die grundsätzliche Frage, auf der auch die Ausarbeitung des European Green Deals basiert. Doch allein die Frage impliziert bereits eine weitere Unbekannt: Was bedeutet nachhaltig? Denn eine allgemeingültige „Nachhaltigkeit“ gibt es ebenso wenig wie DEN Leichtbau.
Das Hauptziel des 2019 vorgestellten European Green Deal besteht darin, Europa bis zum Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen verschiedene Maßnahmen ergriffen werden, die den ökologischen Fußabdruck der EU reduzieren.
Die vier wichtigen Inhalte des Green Deal sind:
- Klimaneutralität der EU bis 2050.
- Schutz von Tier- und Pflanzenwelt durch das Eindämmen der Umweltverschmutzung.
- Unterstützung von Unternehmen, mit dem Ziel im Bereich sauberer Produkte und Technologien weltweit führend zu werden.
- Für einen gerechten und inklusiven Übergang zu sorgen.
Der erste Teilschritt soll 2030 geschafft sein: Die Treibhausgasemissionen sollen dann um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 gesunken sein. Dazu müssen sich Wirtschaft und Gesellschaft zum Teil von Grund auf neu ausrichten.
Das Paket „Fit für 55“ nennt dazu Vorschlägen zum Überarbeiten und Aktualisieren bestehender EU-Rechtsvorschriften. Außerdem enthält es Vorschläge für neue Initiativen, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Maßnahmen der EU mit den Klimazielen in Einklang stehen, die der Rat und das Europäische Parlament vereinbart haben.
Um die EU bis 2050 klimaneutral zu machen, seien Maßnahmen in der gesamten Wirtschaft notwendig:
- Der Energiesektor muss „dekarbonisiert“ werden. Mit anderen Worte: Die Nutzung fossiler Energieträger muss minimiert werden. Denn Erzeugung und Verbrauch von Energie verursachen etwa 75 Prozent der Treibhausgasemissionen in der EU.
„Energieeffizienz muss im Mittelpunkt stehen.“
(Quelle: Original-Text European Green Deal) - Etwa 40 Prozent dieses Energieverbrauchs entfallen auf den Gebäudebestand. Durch Renovierung und technische Maßnahmen – Beispiel Wärmepumpe – soll dieser Anteil gesenkt werden.
- Lediglich 12 Prozent der in der europäischen Industrie verwendeten Werkstoffe sind recycelte Materialien.
- Der Verkehr macht etwa 25 Prozent aller Emissionen aus. Erwünscht sind deshalb umweltfreundlichere, kostengünstige und gesündere Formen der privaten und öffentlichen Mobilität.
Der Green Deal konkretisiert dazu sieben Handlungsfelder – von Energiewirtschaft über Mobilität bis hin zum Bauwesen und der Agrarwirtschaft:
- Versorgung mit sauberer, erschwinglicher und sicherer Energie.
- Mobilisierung der Industrie für eine saubere und kreislauforientierte Wirtschaft.
- Energie- und ressourcenschonendes Bauen und Renovieren.
- Raschere Umstellung auf eine nachhaltige und intelligente Mobilität.
- Entwicklung eines fairen, gesunden und umweltfreundlichen Lebensmittelsystems.
- Ökosysteme und Biodiversität erhalten und wiederherstellen.
- Null-Schadstoff-Ziel für eine schadstofffreie Umwelt.
Und um eines klarzustellen: „Leichtbau“ wird im Originaltext – hier zum Download: European Green Deal 2019 -kein einziges Mal explizit genannt. Nichtsdestotrotz wird eine Umsetzung mindestens der Maßnahmen 1 bis 4 ohne den Leichtbau nicht gelingen. Gleichzeitig ist aber der Green Deal auch eine Herausforderung für den Leichtbau.
Die 11 „R“ eines nachhaltigen Produktlebens
Um das zu verdeutlichen, folgen wir einmal dem Lebenszyklus eines Produktes. Sei es Auto oder Koffer, Fahrrad oder Zahnbürste – gleiches gilt auch für jedwedes technische Bauteil, für jede Komponente, jede Maschine, jede Produktionsumgebung und sogar für ein ganzes urbanes System!
4 „R“ für Design und Entwicklung
🌍Reduce (Reduzieren)
Grundlegend für den Leichtbau ist eine Reduzierung des Materialverbrauchs und das Streben nach Materialeffizienz – in vielen Fällen folgt der Leichtbau hier bionischen Prinzipien. Die Materialeffizienz ihrerseits schafft außerdem die Grundvoraussetzung für die Kreislaufwirtschaft. Denn je weniger Material genutzt wird, umso weniger Wertstoffe müssen im Kreislauf geführt werden.
🌍 Redesign (Neuentwickeln) oder Reinvent (Neuerfinden)
Bereits im Designprozess können auch deshalb neue Ansätze erforderlich sein, um Produkte nachhaltig umweltfreundlich zu gestalten. Die Frage nach einem leichtem Werkstoff sowie einem materialeffizienten Design und die Auswahl möglichst umweltschonender Produktionsverfahren nimmt hier ihren Anfang.
🌍 Refine (Verfeinern)
Um dies sinnvoll umsetzen zu können, müssen (Leichtbau-)materialien und die Verarbeitungstechnologien kontinuierlich verbessert werden. Denn nur so können wir ihre Leistungsfähigkeit stetig erhöhen und damit die Nachhaltigkeit im Produktlebenszyklus optimieren.
🌍 Replace (Ersetzen)
Wo nötig und sinnvoll, muss darüber nachgedacht werden, schwere Materialien durch leichtere und umweltfreundlichere Alternativen zu ersetzen.
3 „R“ für Produktion und Prozesse
🌍 Regulate (Regulieren)
Weitere Umweltstandards sind nicht gern gesehen, sind sie doch enges Korsett und erheblicher Kostenfaktor für Forschung und Entwicklung einerseits sowie die unternehmerische Strategie andererseits. Aber in einem einzig auf Wachstum ausgerichteten System sind Regularien wichtig, um die umweltfreundliche Produktion von Bauteilen und Produkten zu sichern und möglichst gleiche Bedingungen für alle Marktteilnehmer herzustellen.
🌍 Reconfigure (Neu konfigurieren)
Prozessketten neu durchdenken, Alternativen finden, neue Technologien kreativ kombinieren, Funktionen integrieren – all das kann mit und im Leichtbau zu einer Neuordnung von Prozesstechnologien und Prozessketten führen, die für mehr Material- und Energieeffizienz in der Produktion und umweltfreundlichere Produkte sorgt.
🌍 Retool (Umrüsten)
Das Umrüsten von Produktionsanlagen und Fertigungsprozessen ist für so manches Leichtbau-Teil notwendig. Doch auch umgekehrt macht es Sinn: Leichte Tools oder Komponenten in der Produktion führen zu mehr Energieeffizienz und resultieren häufig in einer gesteigerten Produktivität.
4 „R“ für Nutzung und End of Life
Eine einfache Maßnahme zum Verringern von Abfallaufkommen, von Ressourcenverbrauch und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen ist die Verlängerung der Lebens- und Nutzungsdauer von Gegenständen, Komponenten und Bauteilen. Der Zielkonflikt zwischen Sicherheitsauslegung mit Redundanz und Materialeffizienz kann in manchen Fällen durch neue Werkstoffe oder Methoden wie die Topologieoptimierung gelöst werden.
Nicht nur technologische, doch ebenso wichtig aber gesellschaftlich verankert ist der Schritt weg von der „Wegwerfgesellschaft“ hin zu neuen Werten bezüglich der Langlebigkeit von Produkten. Ein Trend zur Genügsamkeit sollte „Alter+Funktionstüchtigkeit“ im Gegensatz zum vorherrschenden „Modern+Musthave-Gadget“-Konsum-Gedanken mit gesellschaftlichem Wert versehen. Das steht so zwar nicht im Green Deal, ist aber die logische Konsequenz aus den folgenden „R“ für Nutzungsphase und End-of-Life.
🌍 Repair (Reparieren)
(Leichtbau-)komponenten sollten reparierbar sein, um ihre Lebensdauer zu verlängern und den Bedarf an neuen Materialien zu reduzieren.
🌍 Reuse (Wiederverwenden)
Eine weitere Möglichkeit zur Lebensverlängerung ist das Wiederverwenden einzelner (Leichtbau-)komponenten, wenn sie in ihrem eigentlichen Bestimmungszweck ausgedient haben.
🌍 Recycle (Recyceln)
Wenn ein Produkt nicht mehr zu reparieren und auch nicht mehr umzuwidmen ist, dann sollte es in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden können, um Ressourcen zu schonen. Das setzt ein recyclingfähiges Material sowie Fügetechnologien voraus, die das Trennen der Stoffströme nicht verhindern.
🌍Reclaim (Rückgewinnen)
Letztlich unterstützt das Rückgewinnen von Materialien aus alten Produkten und die Wiederverwendung in neuen Komponenten die Kreislaufwirtschaft und reduziert die Umweltauswirkungen. Den mit jedem Lebenszyklus werden die produktbezogenen CO2-Emissionen geringer.
Natürlich erhebt diese Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit etwas Kreativität lassen sich aus dem Text des Green Deal noch viele weitere Begriffe mit „R“ extrahieren und in den passenden Kontext stellen. Schreiben Sie mir gerne, wenn Ihnen weitere einfallen!
Der Green Deal Industrial Plan: Chancen für europäische Unternehmen
Beim Green Deal Industrial Plan handelt es sich um eine aktuelle strategische Initiative der Europäischen Union, die im Rahmen des European Green Deal entwickelt wurde. Das Ziel ist es, die Industrie in der EU nachhaltiger und umweltfreundlicher zu gestalten. Die wichtigsten Punkte der Initiative umfassen:
- Nachhaltige Industriepolitik: Der Fokus liegt auf eine nachhaltigen Industriepolitik, die darauf abzielt, Europas Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und gleichzeitig die Umweltauswirkungen der Industrie zu minimieren.
- Klimaneutralität: Ein zentrales Ziel ist das Umstellen der europäischen Industrie auf klimaneutrale Produktion bis 2050 durch eine deutliche Reduzierung der CO2-Emissionen.
- Innovation und Forschung: Innovation und Forschung der Industrie mit dem Ziel umweltfreundlichere Technologien und Lösungen zu entwickeln, werden gefördert.
- Kreislaufwirtschaft: Eine funktionierende und umfassende Kreislaufwirtschaft steht im Mittelpunkt des Plans, um Ressourcen effizienter zu nutzen, Materialien wiederzuverwenden und so mittelbar auch eine gewisse Rohstoffsicherheit zu erlangen.
- Digitale Transformation: Die Digitalisierung der Industrie wird in diesem Strategiepapier als Mittel betrachtet, um Ressourceneffizienz und Energieeinsparungen zu erreichen.
- Sozialer Wandel: Die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts und das Schaffen qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze in einer nachhaltigen Industrie wird hervorgehoben.
- Schlüsseltechnologien: Schlüsseltechnologien wie Wasserstoff, erneuerbare Energien und die Elektromobilität sollen gefördert werden.
- Internationaler Wettbewerb: Ziel der EU ist es, in Sachen Nachhaltigkeit weltweit führend zu sein. Darin liegen große Marktchancen für europäische Unternehmen.
- Finanzierung: Es sollen finanzielle Anreize für Investitionen geschaffen werden, um den Wandel hin zu einer nachhaltigeren Industrie zu unterstützen.
- Umweltauflagen und Standards: Strengere Umweltauflagen und Standards sollen sicherstellen, dass die Industrie ihren ökologischen Verpflichtungen nachkommt.
Wie vertragen sich Wachstum und Nachhaltigkeit?
Ursula von der Leyen bezeichnete den Green Deal als „unsere neue Wachstumsstrategie“, die es ermöglichen soll Emissionen zu senken und gleichzeitig Arbeitsplätze zu schaffen. Möglicherweise ist der Anspruch, industrielles Wachstum vom Ressourcenverbrauch abkoppeln zu können, ein fataler Irrtum, vielleicht die größte Schwachstelle des Green Deal. Denn Wachstum bedeutete bisher immer, dass mehr Ressourcen verbraucht werden, so sehr man sich auch bemüht, beispielsweise durch Leichtbau Ressourcen einzusparen und effizient zu wirtschaften.
„Die jährliche Rohstoffgewinnung hat sich im Zeitraum 1970 bis 2017 weltweit verdreifacht und nimmt weiter zu13‚was ein großes globales Risiko darstellt. Etwa die Hälfte der gesamten Treibhausgasemissionen und mehr als 90 % des Biodiversitätsverlusts und der Wasserknappheit sind auf die Rohstoffgewinnung und die Verarbeitung von Materialien, Brennstoffen und Lebensmitteln zurückzuführen.“
(Quelle: Original-Text zum European Green Deal)
Und wer sich die 11 „R“ eines nachhaltigen Produktlebens genauer anschaut, wird feststellen, dass hier einige Anforderungen enthalten sind, die zwar den Absichten des Green Deal in vollem Umfang entsprechen. Dass sie aber einem System, das auf Wachstum durch Konsum und Produktion ausgelegt ist, diametral entgegenstehen. Es sei denn wir schaffen es, Werte derart zu verändern, dass wir Wachstum anders und neu definieren können und sich Wertschöpfung nicht mehr ausschließlich an Materiellem bemisst.
Weiterführende Lesetipps
Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus – »Grünes Wachstum« soll die Rettung sein, aber Wirtschaftsexpertin und Bestseller-Autorin Ulrike Herrmann hält dagegen: Verständlich und messerscharf erklärt sie in ihrem neuen Buch, warum wir stattdessen »grünes Schrumpfen« brauchen.
Über 50 Jahre her ist die Veröffentlichung des Buches „Die Grenzen des Wachstums“ – es hat wenig von seiner Aktualität eingebüßt. 2020 erschien der neue Bericht: „Earth for all„.
Mehr Zahlenmaterial zum Green Deal findet sich beim statistischen Bundesamt: Europäischer Green Deal: Klimaneutralität bis 2050 oder direkt bei der Europäischen Kommission: Statistics for the European Green Deal.
Bild oben: (Quelle: Depositphotos)
Quelle: https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de
Autor: Christine Koblmiller, Redakteurin, Gründerin, Fachjournalistin aus Leidenschaft und überzeugter Leichtbau-Fan.
Mit dem Metamagazin Leichtbauwelt.de habe ich 2018 ein neues Medienformat im B2B-Umfeld geschaffen. Leichtbauwelt ist Inspiration für Ihren Fortschritt und Wissen, wie’s leicht wird. Leichtbauwelt verlinkt, vernetzt und ordnet ein, verlagsunabhängig und transparent. Partei ergreife ich nur für den Leichtbau, von dessen Nutzen ich überzeugt bin.
Seit etwa 25 Jahren bin ich Redakteurin für technische B2B-Fachzeitschriften. Für verschiedene führende Fachmagazine habe ich als eBusiness-Projektmanager Industrie schon 2001 crossmediale Angebote eingeführt, denn die Digitalisierung aller Lebensbereiche hat Einfluss auf unser Informationsverhalten. Deshalb bin ich mir sicher, dass sich die Medienbranche wandeln muss. Mehr über mich finden Sie unter Conkomm, auf Xing oder LinkedIn.
„Leichtbau fasziniert und begeistert. Die Entwicklung von Leichtbauwelt über die letzten Jahre zeigt, dass der Markt unser Angebot braucht und gerne annimmt.“
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