Leichtbaustrategie 2023: Fünf Fragen an Dr. Gunnar Merz

„Wir sehen nicht nur im Beirat den Leichtbau als Enabler für die Erreichung der Ziele des European Green Deals.“

Dr. Gunnar Merz ist Sprecher des Strategiebeirats der Initiative Leichtbau. Seine Kompetenzschwerpunkte sind Internationalisierung, Nachhaltigkeit, Nachwachsende Rohstoffe, Strategie sowie Chemie/Management.
Er ist außerdem Geschäftsführer von Composite United e.V. und Composites Germany.

Ende Juli wurde die   Leichtbaustrategie der Bundesregierung beschlossen. Die Maßnahmen sollen den Ausbau von Leichtbau-Technologien unterstützen und damit die Transformation der Industrie hin zur Klimaneutralität unterstützen. Wir haben bei den Sprecherinnen und Sprechern des Strategiebeirats der Initiative Leichtbau nachgefragt, was sich für Sie und ihre Branche seit der Veröffentlichung der Leichtbaustrategie des BMWK Anfang 2021 so alles bewegt hat.

Leichtbauwelt: Die Ziele der Leichtbaustrategie der Bundesregierung adressieren die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft. Wie werden diese in Ihrer Branche heute berücksichtigt und wie trägt Leichtbau zu nachhaltigem Wirtschaften bei?

Dr. Gunnar Merz: Das Thema Nachhaltigkeit wird in der Composites Branche großgeschrieben. Als deren Vertreter orientieren wir uns strategisch auch an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Der Leichtbau kann einen erheblichen Beitrag zu dessen Erreichung leisten.
Allein zum Thema „Clean Energy“ tragen Composites als das Material zur Herstellung von Rotorblättern im Windenergiebereich und als das Leichtbaumaterial für Tanks zur Wasserstoff- Speicherung und Transport entscheidend bei.
Für „Sustainable Cities“ können hybride Leichtbauwerkstoffe, beispielsweise aus Holz, GFK und CFK, die Möglichkeiten zur Wohnraumverdichtung in Ballungszentren drastisch erhöhen. Die bestehenden Fundamente können eine Aufstockung mit Leichtbaumaterialien dann in einer oder sogar mehreren Ebenen verkraften. Auch die generelle Verwendung von Carbon-Beton, dessen Entwicklung 2016 mit dem deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet wurde, kann durch Langlebigkeit und Einsparung von Zement, das in einem CO2-intensiven Prozess hergestellt werden muss, signifikant beitragen.
In der Gesellschaft hat das Thema Leichtbau noch nicht den Stellenwert, den wir uns wünschen. In der Öffentlichkeit erleben wir leider immer wieder fachlich falsche Berichte, beispielsweise zum Rotorblatt-Recycling von Windenergieanlagen, obwohl es bereits Lösungen gibt und das Umweltbundesamt hierzu veröffentlicht hat: „Alte Windenergieanlagen können umweltschonend rückgebaut und recycelt werden“.

Anm. d. Red.: Dr. Gunnar Merz nimmt hier Bezug auf eine Pressemitteilung aus dem Jahr 2019.Das Umweltbundesamt hat zwischenzeitlich auch eine Studie zum sicheren Rückbau von Windenergieanlagen veröffentlicht, die auch das Recycling der Rotorblätte umfasst. Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

Generell wird das Thema Recycling von vor allem CFK-Bauteilen kontrovers diskutiert, obwohl es hier technische Lösungen gibt, die zum Teil noch entwickelt, aber auch schon industrialisiert sind. Um das Bewusstsein und die Akzeptanz des Leichtbaus in der Öffentlichkeit zu erhöhen, leisten wir weiterhin fachlich fundierte Aufklärungsarbeit.
Der Leichtbau ist eine Transformationstechnologie für den Übergang von der linearen Wirtschaft zur Kreislaufwirtschaft. Dieser Prozess kann durchaus als nächste industrielle Revolution gesehen werden und wird realistisch nur schrittweise erfolgen können. Wichtig ist es dabei die Rückendeckung in der Gesellschaft zu haben. Wir sehen uns daher generell in der Verantwortung gemeinsam nachhaltige technische Lösungen zu entwickeln, die den Wohlstand erhalten und damit auch zur gerade heute sehr wichtigen Stabilität unserer Wertegemeinschaft beitragen.

Leichtbauwelt: Macht die neue Leichtbaustrategie der Bundesregierung das Thema Leichtbau jetzt attraktiver für Ihre Branche?

Dr. Gunnar Merz: Die jetzt ministerien- (und partei-) übergreifende Entwicklung einer gemeinsamen Strategie der Bundesregierung gibt dem Leichtbau ein deutlich stärkeres Gewicht. Die zur Verfügung stehenden und erweiterten Fördermöglichkeiten werden das Risiko für innovative Unternehmen mindern und die Bereitschaft zur Investition in diesem Bereich fördern. Die Strategie schafft eine Perspektive zum Ausbau und Erhalt nachhaltiger Arbeitsplätze in Deutschland.
Wir sehen diese wichtige Chance vor allem auch im Bereich der Produktion. Im Composites Bereich, in dem die Aufgabe der weiteren Digitalisierung der Prozessketten und die Weiterentwicklung neuer Anwendungsbereiche – wie beispielsweise den Schiffbau – im Fokus steht, erwarten wir einen deutlichen Schub.

Leichtbauwelt: Welche Vorhaben in der Leichtbaustrategie der Bundesregierung halten Sie konkret für besonders relevant und innovativ – vielleicht auch mit Blick auf die bisherige Leichtbaustrategie?

Dr. Gunnar Merz: Der Leichtbau wird explizit als Transformationstechnologie bezeichnet und wird damit weiterhin als Schlüsseltechnologie gesehen. Wir sehen nicht nur im Beirat den Leichtbau als Enabler für die Erreichung der Ziele des European Green Deals. 70 Prozent aller weltweiten Treibhausgasemissionen entstehen durch die Nutzung von Kohle, Erdöl und Erdgas für Industrie, Gebäude und Verkehr. Daher ist die Defossilierung wichtigster Schlüssel zur Lösung des Klimaproblems.
Es freut uns sehr, dass in der Strategie die Herstellung biogener Carbonfasern explizit genannt wird, die Relevanz erstreckt sich aber auch auf alle anderen zum Beispiel aus Erdöl hergestellten Leichtbaumaterialien (Kunststoffe). Wesentliche Basis hierfür ist die Transformation der chemischen Industrie, die die Grundstoffe zur Herstellung diverser Kunststoffe, Matrixsysteme oder Fasern auch aus Synthesebausteinen wie Kohlendioxid, grünem Wasserstoff und Stickstoff anstelle von Erdöl herstellen kann. Allerdings müssen politische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten (Stichwort unter anderem Energiekosten). Die Verwendung von Biomasse als Rohstoff ist eine weitere Alternative. So hergestellte Carbonfasern könnten letztlich sogar als Kohlenstoff-Senke dienen.
Die in der Strategie jetzt besonders in den Mittelpunkt gestellte Kreislauf- und Recyclingfähigkeit der Leichtbaumaterialien und die Entwicklung oder Bereitstellung von Ökobilanzen, Material- und Umweltdaten ist besonders wichtig. Politisch ist auch der Wunsch nach einer Stärkung der technologischen Souveränität und der deutschen Wirtschaft sehr relevant. Außerdem sehen wir den internationalen Ansatz mit einer europäischen Forschungsagenda und einem Leichtbau-Hub in Brüssel sehr positiv. Eine Berücksichtigung des Leichtbaus bei öffentlichen Aufträgen wird Beispiele schaffen und die weitere Anwendung fördern.

Leichtbauwelt: Welche Aspekte der Leichtbaustrategie der Bundesregierung stellen für Ihre Branche in der Praxis eine Herausforderung dar? Und aus welchen ergeben sich neue Wettbewerbschancen?

Dr. Gunnar Merz: Die Transformation der linearen Wirtschaft in eine Kreislaufwirtschaft stellt die Composites Branche noch vor erhebliche Herausforderungen. Es wird schon jetzt erwartet, dass für CFK Kreisläufe geschlossen werden können, obwohl die erforderlichen Mengen noch nicht vorhanden sind. Wir freuen uns daher auf die in Zukunft größer werdenden Mengen aus der Windenergie und Luftfahrt. Außerdem wird erwartet, dass recycelte Bauteile oder Fasern wieder in der exakt gleichen Anwendung eingesetzt werden. Hier muss aus unserer Sicht anwendungsübergreifend gedacht werden. Ausrangierte CFK-Gurte aus Windenergie-Rotorblättern könnten viel sinnvoller z.B. im Bauwesen eingesetzt werden und dort in einen neuen Material-Kreislauf eintreten. Nur so können wir Kreisläufe sinnvoll und wirtschaftlich schließen. Eine Flexibilität an dieser Stelle wird auch die immer wichtiger gewordene Resilienz erhöhen. Regularien, die hier greifen könnten, sollten daher pragmatisch entwickelt werden.
Die Entwicklung einer europäischen Leichtbaustrategie sehen wir als eine besondere Chance, Wertschöpfungsketten zurückzuholen und damit die Wettbewerbschancen zu erhöhen. Kontakte nach Korea und Afrika können wir zur Markerschließung und Kooperation sehr unterstützen.

Leichtbauwelt: Reisen wir ins Jahr 2030, in das Jahr, in dem Deutschland nicht mehr als 440 Mio Tonnen Klimagas emittieren will. Die Leichtbaustrategie der Bundesregierung soll die Potenziale des Leichtbaus aktivieren. Welchen Beitrag wird der Leichtbau für den Klimaschutz in Ihrer Branche leisten und wie unterstützt Sie dabei die neue Leichtbaustrategie der Bundesregierung?

Dr. Gunnar Merz: Wir blicken stets optimistisch in die Zukunft. Der Leichtbau wird erheblich zur Einsparung fossiler Brennstoffe beigetragen haben. Composites werden in Rotorblättern von Windenergieanlagen und in Wasserstofftanks eingesetzt und haben ermöglicht, dass der Anteil erneuerbarer Energien in Deutschland bereits auf 70 Prozent angestiegen sein wird.
Die Mobilitätsbranche wird den multimaterialen Leichtbau perfektioniert haben und in vielen Bereichen bereits emissionsfrei unterwegs sein. Carbonbeton und Carbonfasern werden bei Brückensanierung, Wohnraumverdichtung und Neubauten eingesetzt und tragen zur Reduktion der CO2-Emissionen bei. Auch die faserverstärkten Keramiken werden im Hochtemperaturbereich ihr Potential genutzt haben.
Robuste Kooperationen auf europäischer Ebene haben zu einer technologischen Souveränität, größtmöglicher Resilienz und globaler Marktführerschaft geführt. Die Transformation der Wirtschaft wird bereits weit vorangeschritten sein. Flexible anwendungsübergreifende Kreisläufe werden geschlossen sein und dadurch Europa weitgehend von Rohstoff-Importen unabhängig machen. Die Basis wurde mit der Umsetzung der Leichtbaustrategie der Bundesregierung 2024ff gelegt. Die gezielte Förderung war der Schlüssel zum Erfolg. Die deutsche Leichtbauindustrie konnte so tausende von Arbeitsplätzen neu schaffen und halten.

Bild oben: Dr. Gunner Merz, Geschäftsführer, Composite United e.V. und Composites Germany (Quelle: Composites United)


Autor: Christine Koblmiller

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