Welche Teilgebiete der Bionik für den Leichtbau relevant sind

In der Artikelserie „Leichtbau trifft… Bionik“ haben wir uns bei Leichtbauwelt zu Beginn mit der Frage beschäftigt, was Bionik und Leichtbau verbindet. Die Bionik ist – ebenso wie der Leichtbau – ein sehr breit angelegtes und übergreifendes Themengebiet. Um die Relevanz für den Leichtbau besser fassen zu können, ist es interessant, sich die Teilgebiete der Bionik näher anzuschauen.

Bild oben: Der Münchner Olympiapark – seine netzartige Dachkonstruktion entstammt der Feder von Otto Frei, dessen architektonisches Ziel und Ideal das Bauen mit einem minimalen Aufwand an Materie, Fläche und Energie war. (Quelle: Wikipedia | Tiia Monto)

Werner Nachtigall, der Pionier der Bionik in Deutschland, hat in seinem Standardwerk eine Unterteilung der Wissenschaftsdisziplin Bionik in insgesamt zwölf Teilgebiete vorgenommen. An diesen können wir uns beim Betrachten der Relevanz für den Leichtbau orientieren. Nachtigall unterteilt in

  • historische Bionik,
  • Strukturbionik,
  • Baubionik,
  • Klima- und Energiebionik,
  • Konstruktionsbionik,
  • Bewegungsbionik,
  • Gerätebionik,
  • Anthropobionik,
  • Sensorbionik,
  • Neurobionik,
  • Verfahrensbionik und
  • Evolutionsbionik.

Die Geschichte der Bionik und einige historische Beispiele haben wir ein einem früheren Beitrag dieser Artikelserie beschrieben. Projeziert auf die Zukunft könnte man an dieser Stelle eine These wagen: In Zukunft werden alle Branchen zunehmend durch die Bionik beeinflusst werden. Technik und Natur rücken so näher zusammen – und vielleicht werden wir in einigen Jahrzehnten Technologie völlig anders denken, entwerfen und konstruieren. So werden sich möglicherweise Technologie-Entwicklungen in ferner Zukunft kaum mehr von den evolutionären Entwicklungen der Natur unterscheiden.

Historische Beispiele aus der Bionik

Die Gerätebionik betrachtet Funktionseinheiten der Natur und versucht diese Funktionseinheiten technologisch in Sinn und Zweck nachzubauen. Die Sensorbionik untersucht die physikalische und chemische Reizaufnahme und beschäftigt sich mit der Ortung und Orientierung in der Umwelt. Mit dem Einsatz elektronischer Hilfsmittel bei Patienten, die an bestimmten Ausfällen oder Defekten von Leistungen einzelner nervöser Organe leiden, beschäftigt sich die Neurobionik und verhilft hier den Patienten zu einer verbesserten Lebensqualität.

Komplexe biologische Prozesse, ihren Ablauf und ihre Steuerung betrachtet die Verfahrensbionik. Das Ziel, die so gewonnenen Erkenntnisse in die Technologie zu übertragen, liegt darin, die Ökologie zu verbessern, Abfälle zu vermeiden und Energie zu gewinnen. Damit sind bergen vier der zwölf Teilgebiete zwar interessanten Fortschritte in unterschiedlichen Branchen, sind aber für den Leichtbau weniger impulsgebend. Anders verhält es sich mit der Strukturbionik.

Strukturbionik als das Leichtbau-Vorbild

Der am ITV Denkendorf entwickelte technische Pflanzenhalm ist leicht, aber gleichzeitig stabil und kann für die verschiedensten Leichtbaukonstruktionen verwendet werden. (Quelle: ITV Denkendorf)

Die Strukturbionik analysiert Strukturen aus der Biologie, ergründet ihren Sinn und Zweck, ihre Funktion und adaptiert die Erkenntnisse in technische Anwendungen. Kennzeichnend für die Strukturbionik sind spezielle Materialien, Strukturen oder Oberflächen. Da die belebte Natur immer höchst effizient „baut“ und mit Ressourcen sehr sparsam umgeht, lassen sich hier viele Vorbilder für Leichtbau-Strukturen finden.

Ein heute weit verbreitetes Beispiel, das im Leichtbau eine hohe Relevanz besitzt, ist die Wabenstruktur. Diese erreicht mit wenig Material und geringem Gewicht eine hohe Stabilität. Sie wird im Bauwesen und der Architektur ebenso genutzt, wie in leichten Bauteilen für Automobil, Luft- und Raumfahrt sowie für Plattenkonstruktionen beispielsweise im Möbel- oder Innenausbau.

Auch die Strukturen von Riesenschachtelhalm (Technischer Pflanzenhalm im Beitrag zu den Beispielen aus der Bionik) und Kieselalge eröffnen neue Sichtweisen auf mögliche Leichtbau-Konzepte in Technik und Architektur.

Wie Baubionik und Leichtbau zusammenhängen

Die baumartigen Stützen sind kennzeichnend für den Stuttgarter Flughafen und ein Beispiel für Baubionik (Quelle: Wikipedia | CatalpaSpirit)

Aus dem Studium biologischer Leichtbau-Konstruktionen lassen sich ebenfalls viele Anregungen für technische Leichtbauten in der Architektur gewinnen. Ausgangspunkt können beispielsweise Netze (Seilkonstruktionen), Schalen und Panzer (Membran- und Schalenkonstruktionen) oder Eischalen (schützenden Hüllen, die Gasaustausch erlauben) sein. Ebenso zur Baubionik gehören ideale Flächendeckungen (Blattüberlagerungen) und Flächennutzungen (wieder: Wabenprinzip). Auch die optimale Nutzung von Wind und Sonne durch adaptive Strukturen gehört zur Baubionik.

Die Baubionik oder Architekturbionik fand bereits 1970 Eingang in die Forschung. An der Universität Stuttgart wurde damals der Sonderforschungsbereich „weitgespannte Flächentragwerke“ eingerichtet, dem 1994 der Sonderforschungsbereich „natürliche Konstruktionen“ folgte. Anfang der 2000er legte Werner Sobek, der seit 1995 das Institut für Flächentragwerke der Uni Stuttgart leitete, diesen Forschungsbereich mit dem damaligen Institut für Konstrukt und Entwurf II zum heutigen Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) zusammen.

Beispiele für bionisch anmutende Bauwerke gibt es einige. Dabei ist es aber für Betrachter oftmals schwierig eine klare Grenze zwischen Baubionik und dem reinen Nachahmen bionischer Formen zu ziehen. Ein Beispiel für Baubionik sind häufig weitgespannte Flächentragwerke, zu sehen beispielsweise im Stuttgarter Flughafen, wo die baumartigen Stützen des Gebäudes die Funktion der gleichmäßen Flächenlastverteilung aus der Natur übernommen haben und das Dach auf ihren Ästen tragen.

Wer zum Thema Baubionik noch mehr lesen möchte, wird zum Beispiel bei der Süddeutschen Zeitung oder bei JLL fündig. Ein virtueller Rundgang im Naturkundemuseum Stuttgart bietet darüber hinaus noch weiterführende Filme und Beispiele zum Thema Baubionik.

Weiterführende Literatur: Bionisch bauen – Von der Natur lernen

In der Klimabionik liegt der Schwerpunkt nicht auf dem Klimaschutz, sondern viel mehr auf dem Klima im Inneren von Gebäuden. Damit sind die Vorbilder bei den Be- und Entlüftungsprinzipien von Tierbauten zu suchen. Das Lernen der Funktionsweisen zu passiver Lüftung, Kühlung und Heizung und dessen Umsetzung in die Architektur ist zwar nicht unbedingt relevant für den Leichtbau, kann aber dennoch einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.

Die passive Klimatisierung des Eastgate Centre in Zimbabwe ist analog zur Funktionsweise eines Termitenbaus – ein Beispiel für Klimabionik. (Quelle: Wikipedia)

Ein Beispiel für Klimabionik ist der Eastgate Centre in Zimbabwe, der die ausgefeilten Lüftungssysteme der Termiten in ein technisches Lüftungssystem umgesetzt hat. Die Klimabionik kann damit im weiteren Sinne der Baubionik zugeordnet werden, hat aber in Bezug auf den Leichtbau wenig bis keine Relevanz.

Konstruktions- und Bewegungsbionik – Denkanstöße für den Leichtbau

In der Konstruktionsbionik analysieren und vergleichen Forscher Mechanismen und Konstruktionsweisen aus der Natur und übertragen sie in technologische Lösungsansätze. Aus diesem Teilgebiet kommen die bekanntesten Beispiele für Bionik wie das Bionic Car oder der Klettverschluss.

Auch wenn gerade Letzterer wenig mit Leichtbau zu tun hat, lassen sich aus der Konstruktionsbionie wichtige Ansätze für den Leichtbau finden: Die Natur hat sehr viel stärker als die Technik zu integrativen Konstruktionen geführt, bei welchen die einzelnen Elemente einer Konstruktion mehr als eine Aufgabe zu erfüllen haben. Die Produktentwicklung im Leichtbau kann sich aus der Konstruktionsbionik viele interessante Anregungen für Funktionsintegration und damit für das Einsparen von Bauteilen, Rohstoffen und Fertigungszeit holen und diese im technologischen Rahmen umsetzen.

Mehr zum Thema Konstruktionsbionik ist zum Beispiel bei Science in School nachzulesen.

Die Bewegungsbionik befasst sich mit kraftvoller, energieeffizienter und reibungsarmer Fortbewegung in den Medien Luft und Wasser oder am Boden durch Laufen, Schwimmen und Fliegen. Ziel dieses Teilgebiets der Bionik ist, die Bewegung technischer Objekte zu optimieren, indem man sowohl die Strömungsanpassung und den Antriebsmechanismus als auch den mechanischen Wirkungsgrad näher betrachtet. Und wer kennt sie nicht: die Haihaut als eines der bekanntesten Ergebnisse dieser Forschung in der Bewegungsbionik.

Fragen der funktionsmorphologischen Gestaltung beispielsweise von Flügeln können hingegen interessante Impulse setzen, die wiederum für die Entwicklung leichtgewichtiger Bauteile weiterführende Denkanstöße liefern.

Die Antropobionik beschäftigt sich mit der Effizienz von Mensch-Maschine-Schnittstellen und mit den bionischen Prinzipien für die Robotik. Das Unternehmen Festo hat in diesem Teilgebiet in den letzten Jahren sehr interessante Lösungen gefunden und begreift die Bionik zusammen mit den Partnern als Reservoir für Impulse zur Entwicklung für Technologien der Zukunft, darunter auch der Leichtbau-Technologie.

Die Evolutionsbionik nutzt den Erkenntnisgewinn aus den biologischen evolutionären Prozessen zur Simulation and Optimierung von komplexen technischen Systemen – denn die biologische Evolution kennt kein Ziel: natürliche Strukturen entstehen durch „Versuch und Irrtum“.

Durch Mutation, Rekombination und Selektion entstand die Vielfalt der an ihren Lebensraum angepassten Flora und Fauna unserer Erde. Diese Strategien lassen sich auch auf Simulation und Optimierung im Leichtbau anwenden und machen dann Sinn, wenn Werkstoffe oder Bauteile rechnerisch [noch] nicht simulierbar sind.

Scharfe Abgrenzung der Teilgebiete kaum möglich

Nachtigall hat zwar eine Unterteilung der Bionik in Teilgebiete versucht, doch in meinen Augen ist eine scharfe Abgrenzung dieser Teilgebiete in ihrer Relevanz bezogen auf den Leichtbau kaum möglich. Sicher ist jedoch, dass in der Natur ein ungeheures Reservoir an Impulsen für immer neue Lösungen auf die Herausforderungen unserer Zukunft schlummert – auch im Leichtbau.

Beitrag aktualisiert: 11.01.2021


Christine Koblmiller

Autor: Christine Koblmiller, Redakteurin, Gründerin, Fachjournalistin aus Leidenschaft, überzeugter Leichtbau-Fan.

Mit dem Metamagazin Leichtbauwelt.de habe ich 2018 den Schritt in die Selbständigkeit gewagt und mit Leichtbauwelt ein neues Medienformat im B2B-Umfeld geschaffen. Seit etwa 25 Jahren bin ich Redakteurin für technische B2B-Fachzeitschriften. Für verschiedene führende Fachmagazine habe ich als eBusiness-Projektmanager Industrie schon 2001 crossmediale Angebote eingeführt, denn die Digitalisierung aller Lebensbereiche hat Einfluss auf unser Informationsverhalten. Deshalb bin ich mir sicher, dass sich die Medienbranche wandeln muss. Mehr über mich finden Sie unter Conkomm, auf Xing oder LinkedIn.

„Leichtbau fasziniert und begeistert Techniker. Er ist für die Herausforderungen der Zukunft unabdingbar. Deshalb bin ich sicher, dass der Markt für ein Angebot wie Leichtbauwelt.de reif ist.“

 

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