Mit dem Netzwerk Tschaum + Funktion hat sich das Kunststoff-Zentrum in Leipzig (KUZ) auf das Schaumspritzgießen von Thermoplasten zur Fertigung leichter Bauteile spezialisiert. Was sich auf den ersten Blick nicht erkennen lässt: Das Schaumspritzgießen bietet einige Möglichkeiten, Bauteile durch bionische Strukturen leichter und stabiler anzufertigen. Im Gespräch mit Leichtbauwelt erklärt Annerose Hüttl, Mitglied des Fachbeirats im Netzwerk, die Zusammenhänge an drei Beispielen für unterschiedliche bionische Strukturen.
Leichtbauwelt: Neben der Additiven Fertigung und dem Feinguss sind bionische Strukturen auch über das Schaumspritzgießen thermoplastischer Kunststoffe zugänglich. Welche Möglichkeiten eröffnen sich hier für Entwickler und Konstrukteure?

Annerose Hüttl: Das Schaumspritzgießverfahren kann sicher nicht jede Struktur abbilden, die sich aufgrund topologischer Optimierung ergibt. Und häufig ist der Konstrukteur in der Praxis auch Restriktionen unterworfen wie zum Beispiel dem zur Verfügung stehenden Bauteilraum. Dennoch gibt es einige Möglichkeiten, bionische Prinzipien in praktische Bauteile zu überführen.
Leichtbauwelt: Könnten Sie uns das an einem Beispiel erklären?
Annerose Hüttl: Am einfachsten und ehesten nachvollziehbar ist der dickwandige Schaumspritzguss, der sich an Tierstacheln orientiert. Die Stacheln, beispielsweise des Stachelschweins, müssen gegenläufige funktionelle Anforderungen erfüllen: Sie müssen leicht und dennoch wehrhaft und damit lang und stabil sein. Die Natur löst diese Herausforderung durch eine Rinde, welche aus dichten Hornzellen besteht, die nach innen in Versteifungsleisten auslaufen. Im Inneren befinden sich große luftgefüllte Zellen aus abgestorbenen Zellwänden, die wiederum Versteifungsleisten nach außen ausbilden.

Rechts: Dickwandiges Schaumspritzguss‐Bauteil (Quelle: KUZ)
Leichtbauwelt: Und diese Strukturen lassen sich im Schaumspritzguss nachbilden?
Annerose Hüttl: Ja, denn der Schaumspritzguss dickwandiger Bauteile bildet exakt diese Strukturen aus, was leicht erklärbar ist: Durch rasche Abkühlung an der gekühlten Werkzeugwand entsteht so eine kompakte Randschicht aus Thermoplast, während sich durch heißere Temperaturen im Inneren große Blasen bilden, so dass von außen nach innen eine Integralschaumstruktur entsteht.
Leichtbauwelt: Welche Anwendungen sind für diese Art bionischen Leichtbaus zugänglich oder vorstellbar?
Annerose Hüttl: Das sind einige. Im Maschinenbau beispielsweise können auf diese Weise Schwimmkörper, Zahnräder, Rotoren, Lüfterräder- beispielsweise für Elektromotoren – und bewegte Schließmechanismen hergestellt werden. Im Bereich Sportgeräte wären leichte Ruderblätter denkbar.
Leichtbauwelt: Nun gibt es im Leichtbau häufig auch flächige Bauteile. Sind Ihnen hier Analogien aus der Natur bekannt, die sich über das Schaumspritzgießen darstellen lassen?
Annerose Hüttl: Auch das gibt es: Die Wasserpflanze Victoria regia besteht aus riesigen Blättern, die so stabil sind, dass darauf ein Kind Platz nehmen könnte. Auf der Wasserseite der schwimmenden Blätter ist eine radiale, verzweigte Anordnung von Verstärkungsrippen angeordnet, die im Inneren mit luftgefüllten Zellen gefüllt ist. Die Außenhaut besteht aus einer widerstandsfähigen Stachelhaut. Auch hier ordnet die Natur schwereres und leichteres Material dort an, wo es jeweils seine effektivste Wirkung entfalten kann. So wie sich beim Schaumspritzgießen der leichte Schaum im Inneren des Bauteils anordnet, beherbergt Victoria regia luftgefüllte Zellen im Inneren ihrer Rippen. Verstärkende Materialien finden sich jeweils am Rand der Rippen.

Rechts: Kreuzverrippte Platte mit Schaumkern (Quelle: KUZ)
Das Einbringen von Verrippungen, meist auf der Unter‐ oder Nicht‐Sicht‐Seite von Kunststoffbauteilen ist ein häufig angewandtes Konstruktionsprinzip, um gleich zwei nützliche Vorteile zu erzielen. Durchgesetzt hat sich dieses Prinzip, weil zum einen durch dünnere Wandstärken Material eingespart wird ohne die wichtige mechanische Kenngröße der Biegesteifigkeit negativ zu beeinflussen. Diese ist nämlich in großem Maß von der Höhe der Versteifungsrippen abhängig. Zum anderen gibt es prozesstechnische Vorteile. Im Vergleich zu dickwandigen unverrippten Bauteilen lassen sich verrippte Bauteile mit dünneren Wandstärken deutlich schneller und somit wirtschaftlicher fertigen.
Leichtbauwelt: Und wie wird dieses Konstruktionsprinzip im Schaumspritzgießen umgesetzt?
Annerose Hüttl: Hier ist zu beachten, dass für das Schaumspritzgießen andere Konstruktionsrichtlinien gelten als für das Standard-Kompakt-Spritzgießen. Dort ist die Rippendicke 30 bis 50% kleiner als die Dicke der Grundfläche. Schaumgerechte Rippen haben etwa die gleiche Dicke wie die Grundfläche.
Leichtbauwelt: Verrippungen an sich sind tatsächlich ein bekanntes Prinzip zum Versteifen von Bauteilen. Hatten Sie zur Herstellung solcher Bauteile im Schaumspritzguss schon Projekte mit Industrieunternehmen oder gibt es dazu Demonstratoren?
Annerose Hüttl: Am KUZ entwickelten wir verschiedene Demonstratoren, zum Beispiel das Formteil „Schaumrippe“ oder „Wanne“ mit Expansionshub. Mit mehreren Partnern setzen wir derzeit konkrete Anwendungen in Industrieunternehmen bilateral um.
Leichtbauwelt: Nun finden sich aufgeschäumte Materialien – wie im ersten Beispiel – ja häufig zwischen geschlossenen Deckschichten in einer Art Sandwichaufbau. Hat dieses Prinzip ebenfalls ein bionisches Vorbild?
Annerose Hüttl: Wie viele Dinge, die wir in der Technik adaptiert haben, hat tatsächlich auch das Sandwichprinzip ein Vorbild in der Natur. Es sieht leichte Materialien zwischen verstärkenden Randschichten vor, wobei der leichte Kern dabei hauptsächlich als Abstandshalter fungiert. Besonders effektiv ist es, wenn dabei unterschiedliche Materialien zum Einsatz kommen. So setzt sich beispielsweise der Panzer bei Insekten und anderen Gliedertieren aus einer äußeren Hartstruktur und mehreren leichten Schichten im Inneren zusammen.
Leichtbauwelt: Das bedeutet aber, dass wir es hier mit Mehrkomponenten-Spritzguss zu tun haben, oder?
Annerose Hüttl: Ja, die faserverstärkten Deckschichten mit leichten Schäumen im Inneren werden über das 2-Komponenten-Schaumspritzgießen hergestellt.
Leichtbauwelt: Hatten sie für dieses Verfahren bereits praktischen Anwendungsbeispiele?

Rechts: Leichtbauteil mit faserverstärkter Deckschicht und leichtem Schaumkern (Quelle: KUZ)
Annerose Hüttl: Zusammen mit dem Koller Leichtbau-Zentrum Lupburg entwickelten wir eine topologieoptimierte tragende Leichtbaustruktur. Sie ist an bionische Strukturen angelehnt und wird im 2-Komponenten-Sandwich-Spritzgießverfahren hergestellt.
Um das One-shot-Sandwich-Verfahren für großvolumige Struktur- und Sichtbauteile in Großserie wirtschaftlich einsetzen zu können, ist eine Mehrfach-Anbindung mit Heisskanälen und kaskadischer Füllung notwendig. Hierzu hat Koller eine Werkzeugentwicklung in das Projekt eingebracht, die zum Patent angemeldet ist.
Leichtbauwelt: Was sind generell die Herausforderungen beim Schaumspritzgießen?
Annerose Hüttl: Verfahrensbedingt bilden sich durch aufplatzende Schaumblasen an der Oberfläche weißliche Schlieren. Für dieses klassische Problem gibt es viele verfahrenstechnische Lösungsmöglichkeiten. Das KUZ hat sich auf das 2-Komponenten-Sandwich-Spritzgießverfahren spezialisiert. Hier wird der Schaumkern durch eine kompakte, optische einwandfreie Außenschicht gekapselt.
Leichtbauwelt: Welche Vorteile hat das Schaumspritzgießen?
Annerose Hüttl: Natürlich liegt der Hauptvorteil in der Gewichts- und damit Materialersparnis, woraus eine Steigerung der Wirtschaftlichkeit resultiert. Insbesondere beim Leichtbau bewegter Systeme lässt sich Energie sparen.
Leichtbauwelt: Wo sind dem Verfahren Grenzen gesetzt?
Annerose Hüttl: Das Schaumspritzgießen mir nur einer Komponente bewirkt je nach Belastungsfall eine Reduzierung der mechanischen Eigenschaften. Während Druck- und Zugbelastungen kritisch sind, kann bei Biegebelastung der sogenannte „Sandwicheffekt“ genutzt und damit ein wirklicher Leichtbaueffekt erzielt werden. Das 2-Komponenten-Sandwich-Spritzgießverfahren bietet bei Verwendung einer sehr steifen Hautschicht weitere Möglichkeiten, die Festigkeit zu steigern. Verfahrenstechnisch kann hier kein Heißkanal verwendet werden, da die Hautschicht hier nicht an einer kalten Werkzeugwand erstarren kann, was zum Vermischen führt.
Um künftig wirklich sichere Aussagen zu Schwindung und Dimensionsstabilität treffen zu können, sind sowohl beim 1K- als auch beim 2K-Verfahren noch weitere Entwicklungen und Untersuchungen nötig. Hierzu unterstützt das KUZ mit dem noch laufenden Projekt „Maßhaltigkeit TSG (Thermoplastischer Spritzguss)“.
Leichtbauwelt: Für welche Werkstoffe eignet sich das Verfahren besonders?
Annerose Hüttl: Das Verfahren eignet sich grundsätzlich für alle thermoplastischen Werkstoffe. Im Einzelfall gibt es Besonderheiten bezüglich des chemischen und physikalischen Schäumens und einiger kritischer Materialien zu beachten.
Leichtbauwelt: Wenn sich ein Unternehmen für das Sandwich-Spritzgießen interessiert, können Sie ihm den Einstieg erleichtern oder ermöglichen?
Annerose Hüttl: Wir unterstützen potenzielle Anwender bei der effizienten Herstellung von Sandwichbauteilen bezogen auf das One‐Shot‐Verfahren. In unserem Technikum bietet sich die Möglichkeit Spritzgießversuche im Zwei‐Komponenten‐Sandwichspritzgießen mit Schaumkern durchzuführen. Der Schaum kann dabei chemisch durch Treibmittel oder durch physikalische Direktbegasung erzeugt werden. Hierfür steht die 2K‐Spritzgießmaschine Battenfeld HM‐MK 180/525H/350V mit Cellmould‐Einheit zur Verfügung. Wir führen Untersuchungen zu anwendungsgerechten Materialkombinationen mit Ziel Leichtbaueffekt durch, erarbeiten die Verfahrensparameter und bewerten prüftechnische Ergebnisse der so entstandenen Leichtbauteile.
Bild oben: Das Vorbild aus der Natur: Wie bei der Victoria regia versteifen die Rippen flächige Strukturen (Quelle: Pixabay | bergadder)
Persönlicher Kontakt zu Annerose Hüttl
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